An die Uni ohne Zeugnis – Flüchtlinge beginnen Studium

Raus aus der Warteschleife, Lernen statt Langeweile: Zum Wintersemester startet in Berlin eine Universität für Flüchtlinge. Zum Einschreiben brauchen sie nichtmal einen Pass.

In Kairo war Andrew Student. Studienfach Journalismus, zwei Jahre vor dem Abschluss. Dann musste er weg. «Jetzt bin ich in Berlin Flüchtling», sagt der 22-Jährige. Doch Flüchtling, das könne nicht alles sein. Andrew will zurück an die Universität. An einer staatlichen Hochschule darf er sich noch nicht einschreiben. Trotzdem beginnt der Ägypter zum Wintersemester mit einem Studium – zusammen mit rund 1000 anderen an der Berliner Kiron Universität.

Eigentlich müssen Flüchtlinge, die in Deutschland studieren wollen, nicht nur ihre Identität, sondern auch Schulabschluss, Deutschkenntnisse und die Anerkennung vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) nachweisen. Ohne das dürfen sie meist nur Gasthörer sein. Doch Zeugnisse haben viele auf der Flucht verloren. Bis sie fließend Deutsch sprechen und ihr Abitur nachgeholt haben, vergeht viel Zeit. Zeit, die junge Leute viel besser nutzen könnten, meint der Berliner Markus Kreßler. «Die Warterei ist unnötig.»

Mit einem Freund hat er deshalb die Kiron Universität gegründet. Hier soll jeder ohne bürokratische Hürden studieren können. Dokumente, Sprachprüfungen, Aufenthaltsstatus? All das spielt erstmal keine Rolle. Zum Einschreiben braucht man nicht einmal einen Pass. Erst nach zwei Jahren, wenn die Studenten von Online-Kursen an eine richtige Uni wechseln, müssen sie Papiere einreichen.

Andrew hat sein Abitur schon gemacht, nach nur einem Jahr und einer Woche sprach er fließend Deutsch. Doch auf den Brief vom BAMF wartet er seit zehn Monaten. So lange könne er nicht an eine normale Uni, sagt er. «Ich verschwende einfach Zeit.» Und der deutsche Staat bezahle Sozialleistungen für ihn, obwohl er eigentlich längst auf eigenen Beinen stehen könnte.

An der Kiron Uni hat sich Andrew für Wirtschaftswissenschaften eingeschrieben. Auch Ingenieurwesen, Informatik, Architektur und interkulturelle Studien werden angeboten. Damit decke die Uni die meisten Wünsche von Studenten ab, sagt Kreßler. «Medizin war noch viel gefragt», das sei über Online-Kurse aber schwierig.

In den ersten zwei Jahren besuchen die Studenten am Computer Kurse von teils renommierten internationalen Hochschulen wie Harvard oder Yale. Dann geht es an eine von bislang 15 Partnerhochschulen. Auch die Rheinisch-Westfälische Technische Hochschule (RWTH) Aachen will Studenten aufnehmen. Bildung sei entscheidend für die Integration, begründet RWTH-Rektor Ernst Schmachtenberg das Engagement.

Dazu kommt, dass die deutschen Unis bis zum dritten Jahr ohnehin hohe Abbruchquoten haben – in genau diese Lücken könnten die Flüchtlinge stoßen. «Flüchtlinge haben einen langen Weg hinter sich und einen spannenden vor sich», betont der Aachener Wirtschaft-Prorektor Malte Brettel. «Sie bilden ein unglaubliches Potenzial für unsere Wirtschaft, vor allem hinsichtlich des zukünftigen Ingenieurmangels.»

Drei bis vier Jahre wird es dauern, bis man sieht, ob das Konzept der Kiron Universität funktioniert. Dann sollen die ersten Studenten einen anerkannten Bachelor-Abschluss haben. Bis dahin wollen Kreßler und seine Mitstreiter das Projekt auch in andere Länder getragen haben. Als erstes soll eine Basis in der Türkei öffnen. Im kommenden Jahr wollen sie mehr als 10 000 Studenten haben. «Wir könnten jetzt schon bei 100 000 sein, wenn wir wollten», sagt der 25-Jährige.

Doch dafür fehlt es noch an Geld. 1200 Euro kostet ein Studium mit Laptop, Internetzugang, Gebühren. Das Geld soll unter anderem über Crowdfunding zusammenkommen. Fast 150 000 Euro hat die Kampagne schon gebracht. Später soll sich die Universität selbst tragen, indem gut verdienende Absolventen spenden. Und sie soll mehr sein als eine Hochschule, eine Art «Migration Hub», wie Kreßler sagt. Oder: «Integration unter dem Dach einer Universität».

CC
CC
Werbung